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Zeit - von der Quantität zur Qualität

30. August 2018

»Ich habe keine Zeit!« hört man die Leute manchmal sagen. Tatsächlich hat jeder Tag 24 Stunden. Und bei allem Respekt vor der Quantenphysik und der Relativitätstheorie trifft das praktisch gesehen für uns alle zu. Wie wir diese Zeit verbringen und erleben ist natürlich sehr individuell. Wenn wir auf etwas warten, scheinen die Sekunden zäh von den Zeigern der Uhr zu tropfen. Glückliche Stunden dagegen vergehen sprichwörtlich wie im Flug.

Das subjektive Empfinden der Dauer einer Stunde unterscheidet sich erheblich, wenn man auf den Zahnarztstuhl sitzt oder bei der Kosmetikerin. Was macht also die Zeitqualität aus?

Die Idee zu diesem Artikel kommt mir in Bozen im schönen Südtirol am Markplatz, wo ich stundenlang auf der Sonnenterrasse im Café sitze und »den lieben Gott einen guten Mann sein lasse«. Ohne Plan, ohne Termin. Niemand wartet auf mich, ich kann tun und lassen was ich will. Die Tage davor habe ich mit lieben Freunden im Vintschgau verbracht. Feste Zeiten für Frühstück und Abendbrot, geplante Wanderungen, Fahrpläne und Abstimmungen. Alles normal. Alles ok. Aber eines nicht: wirklich freie Zeit. Freizeit eben.
So sitze ich in Bolzano umgeben von italienischem Stimmengewirr. Ich freue mich wie ein kleines Kind über drei Tage Müßiggang, fühle mich völlig offen für Unerwartetes und zufällige Begegnungen, staunende Wahrnehmung und spontane Entscheidungen.
Mir kommt eine Szene von Loriot in den Sinn, in der der Mann immer wieder sagt »Ich will hier nur sitzen« Die Frau rennt im Hintergrund in der Küche hin und her und kann gar nicht fassen, dass
ihr Mann »einfach nur sitzen« will.
Zurück in Deutschland schreibe ich also den Artikel. Wie so oft entsteht der erste Entwurf in meinem Lieblings-Café, weil dort die Atmosphäre so entspannt und gleichsam inspirierend ist.
Kaum habe ich mit dem Text begonnen, schmunzle ich vor mich hin, als eine Szene im Café mir live und in Farbe den passenden Impuls gibt: Eine Frau am Nachbartisch ruft plötzlich »Mir ist die Zeit davon gelaufen!«. Sie springt auf und läuft ihrerseits davon. Der Zeit hinterher …? Wir holen Sie nicht ein – keine Chance – egal wie schnell wir rennen.

»Zeit ist Geld« lautet ein Sprichwort, das uns oft zur Eile treibt. In einem Kinofilm (»Im Weltall gibt es keine Gefühle«) hat der Protagonist herrlich platt und gleichzeitig unfehlbar treffend widersprochen: »Zeit ist Zeit. Und Geld ist Geld.« Hinterfragen Sie ruhig immer wieder solche geflügelten Wörter. Oft bilden sich daraus nämlich Glaubenssätze, die uns in unserer freien Entfaltung behindern.

Die Jäger der verlorenen Zeit

Das Gefühl, die Tage vergehen schneller je älter wir werden, verleitet viele von uns dazu, mit Vehemenz Herr unserer Zeit werden zu wollen. Um sie zu beherrschen, planen wir gewissenhaft, so wie einige das auch aus ihrem beruflichen Umfeld kennen. Zeitmanagement ist in aller Munde. Ursprünglich kommen solche Methoden oft aus der Forschung. Die Anfänge moderner Projektplanung liegen beispielsweise in der Raumfahrt, wo hochkomplexe Projekte mit großer Qualitätssicherheit termingerecht umgesetzt werden müssen. Nach zehn Jahren im Projektmanagement einer IT-Firma verstehe ich solche Verfahren heute als Versuche, das Unkalkulierbare bestmöglich zu kontrollieren. Kostendruck und Konkurrenzkampf haben sinnvolle und notwendige Zeitpuffer weitgehend aufgefressen. Und so ist das Zeitmanagement schon in der Industrie und im Dienstleistungsgewerbe meist nur ein Verwalten von Mangel.
Im Privaten gehen solche Ansätze zusätzlich auch noch an der Seele vorbei, wenn man nicht aufmerksam in sich hineinlauscht. Das Erstellen von Aufgabenlisten oder das Festlegen von Prioritäten kann beruhigen und strukturierend wirken. Das ist letztlich auch eine Typfrage, wie viel Sicherheit jemand braucht und welches Maß an Freiheit notwendig ist. Bitte behalten Sie in jedem Fall im Auge, dass es auf die Balance ankommt zwischen Zeitplan und Freizeit. Freizeit ist übrigens nicht automatisch die Zeit, in der wir keiner bezahlten Tätigkeit nachgehen. Nicht mal im Urlaub ist echte Freizeit selbstverständlich. Um möglichst viel zu erleben, stopfen sich manche Zeitgenossen ihren Kalender in den Ferien voller denn je und glauben die Anzahl der digitalen Bilder oder gefahrenen Kilometer sei ein guter Indikator für einen gelungenen Urlaub.

Welchen Nutzen hat der Nutzen?

Es geht die Mär, man müsse Tage mit gutem Wetter »ausnutzen«: morgens schon aufs Motorrad oder in den Garten oder zur Wandertour aufbrechen. Das mag manchmal ganz prima sein und
womöglich setzen die Sonnenstrahlen einen willkommenen Impuls für eine freie Entscheidung zur Tagesgestaltung. Manchmal aber auch nicht, Wetter gedrängt fühlt, etwas zu unternehmen, obwohl man viel lieber ausschlafen, gemütlich frühstücken und die Seele baumeln lassen würde.
Kennen Sie den Satz »Rentner haben nie Zeit«? Allein die Tatsache, dass man nicht mehr täglich einen Arbeitsplatz aufsuchen muss, heißt noch lange nicht, dass man Freizeit hat. Viele suchen auch nach der Pensionierung eine sinnvolle Beschäftigung, damit sie nicht in eine Renten-Melancholie stürzen. Wir sind unser gesamtes Arbeitsleben lang ja so konditioniert, dass wir ständig etwas Sinnvolles tun.
Was passiert denn, wenn wir uns NICHT beschäftigen? Dann sind wir auf uns selbst zurückgeworfen. Wenn wir unsere Sinne nicht fesseln durch Kultur und Kulinarisches, wenn wir uns nicht betäuben mit Arbeit, Wein oder Fernsehen. Manche halten erstmals Innenschau, wenn sie durch schwere Krankheit oder andere Schicksalsschläge in die Ruhe gezwungen sind und sich ihnen die äußere Welt ein empfindliches Stück weit entzieht. Dann ist plötzlich ganz viel Zeit da, und man weiß gar nicht, was man damit anfangen soll. Rüdiger Dahlke empfiehlt übrigens, die TV-Geräte aus den Krankenzimmern zu entfernen, damit man zur Selbstreflexion kommt. Denn aus Sicht der Psychosomatik ist das körperliche Malheur ein Ausdruck eines Seelenthemas, das gelöst werden will. Wenn man zum Beispiel nach drei Wochen Klinikaufenthalt mit nur einer guten Erkenntnis nach Hause kommt, ist die Zeit vielleicht nicht effektiv genutzt, aber für den eigenen Weg ist womöglich etwas ganz Kostbares gewonnen.

Subjektives Zeiterleben

Unter Hypnose oder in der Meditation ändert sich das Zeitempfinden. Die meisten Patienten berichten, die Sitzung oder Phantasiereise sei ihnen länger erschienen als sie tatsächlich war. Was bedeutet das? Im Zustand der Entspannung, dem so genannten Alphazustand herabgesetzter Hirnfrequenzen, ist das subjektive Erleben, dass die Zeit langsamer vergeht. Haben wir also den Eindruck, unsere Zeit rennt, kann Entspannung eine wirklich gute Alternative sein zum (scheinbaren) Optimieren des Zeitplans.

Statt beispielsweise alle Sehenswürdigkeiten rund um den Bodensee in möglichst kurzer Zeit mit Fähre, Auto oder Fahrrad logistisch sinnvoll zu erobern, kann man auch einfach am Wasser sitzen und auf die Wellen schauen …

Dieser Text ist kein Plädoyer für Tagediebe. Es geht mir vielmehr um eine gute Balance zwischen Planung und Spontanität. Erfahrungsgemäß wissen wir sehr gut, wie wir unseren Terminkalender füllen, und die Mußestunden kommen zu kurz. »Chillen« nennt neudeutsch die Jugendsprache das bewusste Nichtstun. Dass es dafür eine neue Wortschöpfung gibt, macht Hoffnung, dass diese Qualität wieder mehr Eingang in die gelebte Kultur findet. Schließlich bieten Mußestunden Raum für die Seele, und oft nähren diese Zeiten kraftvolles Schaffen in der Phase danach. Hätten Künstler wie Cezanne, Goethe oder Mozart die Kunst des Chillens nicht beherrscht, wären wir wohl um viele Schätze ihres Tuns ärmer.

»Mit Dir chilln, das ist was ich will. Heut Abend ist nichts wichtig, nur dass ich mit Dir chill. Lass die Zeit einfach mal stillstehen und die Leute ohne uns durchdrehen.« (Revolverheld)

Text: PetRa Weiß, www.praxis-lichtblick.eu

Zum Weiterlesen: Geißler, K.: Alles hat seine Zeit, nur ich habe keine. Oekom 2011

Dieser Artikel erschien in der GfBK-Mitgliederzeitschrift Signal 1/2012

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©iStock, 1210358928, nortonrsx
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